Das Unbehagen an der Entschleunigungs-Kultur

Stefan Sonntagbauer über die Gefahr des Überhitzens, zeitliche Heteronomien und eine Welt ohne Netflix.

Seitdem es das zwanzigste Jahrhundert gibt, sind bekanntlich alle möglichen Experten unentwegt dabei, die Apokalypse auszurufen. Einerseits, weil das mehr knallt, als bloß über Problemzonen, Lässlichkeiten oder Nebenwirkungen zu sprechen. Andererseits, weil es schon auch wahr ist. Irgendwie. Nachdem Religion, Ideologie und Jazz (Adorno) ausgedient hatten, ist im Zuge der Digitalisierung, der Globalisierung und der universalen Kapitalisierung der Welt die Beschleunigung zu einem der wirkmächtigsten Begriffe im Untergangs-Diskurs geworden. Einmal als mehr oder weniger präzise Kategorie der akademischen Kritik. In diskursiver Breite dann als universelle Metapher, die uns quer durch die Disziplinen die Welt (miss-)verstehen hilft.

Was dabei herauskommt?

Erderwärmung, Burn-Out oder die allseits beliebte „Überhitzung der Märkte“. Wo Beschleunigung mit keinem adäquaten Regulativ mehr konfrontiert wird, läuft alles heiß. Zumindest darüber sind sich Mediziner, Blogger, Rechts- und Links-Populisten, Energetiker, Philosophen und der dauerempörte Kleinbürger mit Gymnasialabschluss einig: Speed kills!

Eben, weil Heat kills!

Das Antidot ist schnell gefunden. Entschleunigung. Yoga, Slow-Food, japanische Denksportarten und der ganze andere Scheiß. Entschleunigung ist mittlerweile längst selbst zum Medium konsumistischer Beschleunigung geworden. Egal ob Smoothie, Jutebeutel oder „ Kaffeeklatsch mit dem Dalai Laima“ – was sie als Begriff negiert, ist mittlerweile gleichzeitig ihr bevorzugter Modus Operandi. Damit wird auch die politische Dimension der Entschleunigung effektiv ausgeblendet. Entschleunigung ist heute eine Domäne des Individuums – nicht des Staates. Wer Entschleunigung will, soll sie sich doch einfach kaufen. Und wer sich s nicht leisten kann, geht einfach wie in der guten alten Zeit zu McDonalds, Herr Gott noch Eins!

Überhaupt ist das Ideal der Entschleunigung suspekt. Im Endeffekt steckt dahinter meist eine regressive Sehnsucht nach der guten alten Zeit. Entschleunigung ist oft einfach bloß Euphemismus für Rückwärtsgang. Daher auch die unbehagliche Artifizialität, die ihren Institutionen oft anhaftet – die Icons der Entschleunigung visualisieren oft nicht so sehr eine bessere Gegenwart, sondern eine idealisierte Vergangenheit. Wald. Wiese. Ozean. Blume. Biene. Mensch. Natur. Yogamatte. Zurück in einer Zeit, in der die Uhren noch gar nicht getickt haben, weil es eben noch gar keine Uhren gab. D.h. eine Zeit ohne Dosenbier, Netflix und Wellness-Ressorts – na serwas!

Wollen wir das wirklich?

Oder ist es nicht auch manchmal ganz schön hier, jenseits von Eden?

In dieser verkappten Diachronie der Entschleunigung scheint jedenfalls noch ein weiterer, fundamentales Missverständnis begründet. Speed selbst macht nämlich keinen Stress. Zumindest nicht langfristig. Wer sich konstant auf hoher Geschwindigkeit bewegt, kann Körper, Kognition und Emotion darauf einstellen. Freilich ist das leichter gesagt, als zu Ende gedacht. Wo eine neue Kultur entsteht, stirbt meistens gleichzeitig eine alte aus. Omas Kartoffelnudeln, Milliardärswitwe Ingrid Flick, Joseph Goebbels, das Patriarchat, Sumsi, Kants Gesamtwerk, die Fernseh-Serie „Der Frauenknast“, die „große“ Liebe, die „großen“ Romane, Kai Pflaume, Triebaufschub, der Sparefroh, Kegelscheiben in entspannter Atmosphäre. All das hat in einer beschleunigten Welt ganz sicher keinen Platz mehr. Nur sind wir ohnehin noch längst nicht da.

Energie geht heute vor allem verloren, wo es gilt, zwischen verschiedenen Geschwindigkeitszonen zu navigieren. Problematisch ist mitunter, wenn sich verschiedene Zeitlichkeits-Zonen überlappen, überlagern oder eben gegenseitig auslöschen. Die Subjektivität, die sich beispielsweise im Algorithmus von Youtube ausbildet ist nicht schlechter oder dümmer als die, die sich in der guten alten Familie oder im Religionsunterricht konstituiert. Fix ist, aber, dass beide nicht nur grundverschieden, sondern auch noch denkbar schwer miteinander vereinbar sind. Genau das aber muten wir uns heute zu.

Die Modulation der Geschwindigkeit bewirkt gleichsam eine Modulation des Fokus. Geschichtsschreibung oder Präsenz im Reizbild. Tradition oder Futurismus. Diachronizität oder Synchronizität. Das Nebeneinander der Zeitlichkeiten fragmentiert zusehends unser Erleben. Also geht es heute vorerst darum, zu erkennen, dass mit der gesteigerten Heteronomie der Zeitzonen auch eine neue Heteronomie der kommunikativen, kognitiven und emotionalen Anforderungen entsteht. Es geht darum, die Spaltungen des Alltags anzuerkennen, zu integrieren und letztendlich womöglich produktiv zu machen. Dazu müssen wir aber erst einmal bereit sein, anzuerkennen, dass zeitliche Konsistenz gegenwärtig nicht zu haben ist.

Für uns selbst.

Für die anderen.

Wenn wir das einmal geschafft haben, dann wird es eh wieder lustig – aber ganz schnell!

 

Die Heteronomie der Zeitzonen
Die Heteronomie der Zeitzonen